February 16, 2010

Elfriede Jelinek: Rechnitz (Der Würgeengel)


Regie Jossi Wieler
Bühne und Kostüme Anja Rabes
Dramaturgie Julia Lochte
Musik Wolfgang Siuda
Licht Max Keller

Mit: Katja Bürkle, André Jung, Hans Kremer, Steven Scharf, Hildegard Schmahl
Uraufführung Freitag, 28. November 2008 im Schauspielhaus

In der Nacht vom 25. März 1945 feierten auf Schloss Rechnitz, das unmittelbar an der österreichischen Grenze zu Ungarn liegt, SS-Offiziere, Gestapo-Führer und einheimische Getreue des Nazi-Regimes ein "Gefolgschaftsfest", auf dem getanzt und getrunken wurde und in dessen Verlauf fast 200 jüdische Zwangsarbeiter brutal liquidiert wurden. Der Ortsgruppenleiter verteilte an ausgewählte Gäste Waffen, die Juden mussten sich nackt ausziehen, wurden malträtiert und erschossen oder erschlagen. Gemäß Prozessakten des Landgerichts Wien aus der Nachkriegszeit waren auch die Besitzer des von der SS requirierten Schlosses, Graf und Gräfin Batthyány, beim Fest anwesend, als "Gastgeber der Hölle". Margit von Batthyány, geborene Thyssen-Bornemisza, war eine Enkelin des Stahlmagnaten August Thyssen. Sie ist wegen der Rechnitzer Mordnacht nie strafrechtlich verfolgt worden. Knapp vor der Besetzung des Schlosses durch die Rote Armee floh die Gräfin mit Zofe, Mann und Geliebten in die Schweiz, widmete sich fortan der Zucht von Rennpferden und starb 1989. Die Suche nach dem Ort des Massengrabes, in dem die Opfer dieser Nacht verscharrt wurden, ist bis heute erfolglos geblieben. In Rechnitz herrscht ein Klima der Angst - während der Ermittlungen in der Nachkriegszeit wurden Zeugen ermordet - und bis heute eine Kultur des geschwätzigen Verschweigens. Man redet zwar über jene Nacht, über Schüsse und über Schreie der Sterbenden, aber man verschweigt die Details. "Die Juden haben eine Klagemauer, wir haben eine Schweigemauer", sagte einmal ein Ortsbewohner.

Elfriede Jelinek versammelt in RECHNITZ (DER WÜRGEENGEL) eine kleine Gesellschaft von Boten, über keinen Zweifel erhabene Berichterstatter. In sprachlich furiosen Suchbewegungen, Schicht um Schicht abtragend, nimmt sie unermüdlich Grabungen vor, um sich dem Krater der Ungeheuerlichkeit dieser Tat und ihrer Verschleierung zu nähern. Jelinek versucht keine detailgenaue Rekonstruktion eines historischen Verbrechens, und dennoch wird jedes Detail dieser monströsen Geschichte zur kalkuliert unkontrollierten Roulettekugel in einem "Casino des Denkens", das die Bedingungen unserer gegenwärtigen Gesellschaft auslotet. Ein blitzheller Blick zurück auf die Topographie des Nazi-Terrors, zugleich eine Reise durch Jelineks Kopf, ein wilder Assoziationsfluss, rechts und links althergebrachte Gewissheiten einreißend. Elfriede Jelinek, 1946 in der Steiermark geboren, gehört zu den wichtigsten Schriftstellerinnen der Gegenwart und erhielt
2004 den Nobelpreis für Literatur.

Der Theater- und Opernregisseur Jossi Wieler hat an den Kammerspielen ALKESTIS (eingeladen zum Theatertreffen 2002), DAS FEST DES LAMMS, MITTAGSWENDE (eigeladen zum Theatertreffen 2005), DIE BAKCHEN, ULRIKE MARIA STUART und ÖDIPUS AUF KOLONOS inszeniert. Jossi Wieler, der durch seine ungewöhnlichen Inszenierungen von Stücken Elfriede Jelineks (WOLKEN.HEIM., ER NICHT ALS ER, MACHT NICHTS, ULRIKE MARIA STUART) als Spezialist für diese Autorin gelten kann, wird mit der Uraufführung von RECHNITZ (Der Würgengel) seine Zusammenarbeit mit der Autorin und den Kammerspielen fortsetzen.

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